"Das Geheimnis ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit“ Georg Simmel „Soziologie“ (1906)

Doch gibt es heute, im Zeitalter der „totalen Information“ überhaupt noch Geheimnisse? Ich meine damit nicht die Art von Geheimnissen, die mit schöner Regelmäßigkeit aus Parteizentralen zu uns dringen und sich in der Regel um Spendengelder drehen. Duldet unsere Gesellschaft im Zeitalter des „gläsernen Menschen“ Geheimnisse? Hat nicht bereits die Aufklärung damit begonnen, das Licht in jeden Winkel des Daseins zu tragen? Um gleichzeitig in magisch-mystischen Zirkeln und Freimaurerlogen neue, alte Geheimnisse zu suchen und zu pflegen?

Max Weber spricht von der „Entzauberung der Welt“ in der Moderne, in der die geheimnishafte Welt des Religiösen säkularisiert und die arkanen Bezirke traditionaler Gesellschaft durch Demokratisierung und Bürokratie überwunden, sprich rationalisiert werden. Das Geheimnis scheint sich heute auf Ehebruch und Liebesverrat zu beschränken und selbst dieser wird in speziell dafür eingerichteten Nachmittags-Talkshows einem voyeuristischen Publikum zum Medienfraß vorgeworfen. Gibt es noch wirkliche Geheimnisse? Oder werden nur Tatsachen verschwiegen, Lügen inszeniert und Interessen kaschiert, um im Wettbewerb der Parteien oder Konzerne einen Vorteil zu erringen?

Beides stimmt und es ist ein vitaler Widerspruch. Einerseits beseitigt die moderne Gesellschaft radikal und rücksichtslos Geheimnisse, andererseits produziert sie ständig neue, weil, wie der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme schreibt, „die Moderne ohne Geheimnisse nicht bestehen könnte.“ Gesellschaften wie auch Individuen könnten ohne ein gewisses Maß an Geheimnissen nicht einmal überleben. Dazu noch mal Hartmut Böhme: „Es ist eine der großen Selbsttäuschungen unserer Gesellschaft, dass sie, auf Information und Aufklärung, auf Kommunikationstechniken und Massenmedien setzend, Geheimnisse aufzulösen glaubt; - sie erzeugt Geheimnisse im selben Maße, wie sie diese beseitigt.“

Georg Simmels Verdienst war es, das Geheimnis als Feld der Soziologie zu entdecken. Diese ist aber eine sog. „Tageswissenschaft“, wie beinahe alle anderen Wissenschaften auch. Die Erkenntnisse, die diese Wissenschaften erarbeiten, gelten für die Tageswirklichkeit, den Alltag; die Nacht dagegen ist diesen Forschern verschlossen.

Wenn wir Licht ins Dunkel bringen, so beleuchten wir dadurch nicht das Dunkel, wir vertreiben es nur, es entzieht sich. Je mehr Licht wir einbringen, desto mehr zieht sich das Dunkel zurück. Das Dunkel, das Geheimnis, ist mit der Sprache der Tageswissenschaften nicht beschreib- und nicht erklärbar. Die Sprache der Nacht ist die Poesie. Wir identifizieren stets das Wissen mit dem Licht, doch wenn es um das Wissen vom Dunkel geht, versagt das Licht. Es ist, als wollte man eine Unterwasserwelt mit den Erfahrungen einer Landwelt beschreiben – so würde man z.B. feststellen, dass es in dieser Welt dauernd heftig regnet und „etwas mit der Schwerkraft nicht stimmt“.

Das Geheimnis ist nicht der Gegensatz zur Aufklärung, sondern ihr anderes Selbst. Deshalb entstanden gerade in der Blütezeit der Aufklärung geheime Gesellschaften, Logen und Zirkel ohne Zahl. Weil man erkannte, dass das eine ohne das andere nicht sein kann, dass sie sich gegenseitig bedingen, als die zwei Seiten einer Medaille.

>Das Dunkle ist nicht die Abwesenheit von Licht, sondern eine andere Wesenheit und Qualität. Für das Geheimnis bedeutet dies: um es zu erkennen, benötigen wir eine Form des Verstehens, die das Geheimnis in einem Akt des Erkennens akzeptiert und bewahrt, es dabei aber nicht beseitigt.

Wenn das Wissen und die Ratio das Geheimnis berühren, ist es schon wieder fort. Deshalb braucht das Geheimnis seine eigene, poetisch-emotionale Sprache um sich nicht-enthüllend zu artikulieren.

Zwischenfrage: Warum könnten wir ohne Geheimnisse nicht leben?

Stellen wir ein Gedankenexperiment an: eine rein wissenschaftliche Gesellschaft ohne Geheimnis, darin Liebende ohne Geheimnisse, Künste in jedem Wort, in jedem Ton, in jedem Pinselstrich erklärbar und rational verständlich. Es gäbe keine Unterschiede der Kulturen und keine exotische Fremdheit. Eine Welt des Lichts in schattenloser Ausleuchtung, der schlimmste Alptraum. Eine Welt ohne Spannkraft und Eros, ohne Anziehungskraft und Zauber – es wäre eine Hölle aus Licht.

Sozial gesehen ist das Geheimnis eine Funktion der Freiheit. Für den Unfreien des Mittelalters war die Welt als Ganzes, das Sternenzelt und die Natur angefüllt von willkürlichen Kräften, die er nicht verstand. Es war für ihn ein Rätsel ohne Lösung, aber kein Geheimnis. Denn das Geheimnis ist keine Folge des Nicht-Wissens, sondern bildet sich erst auf der Ebene des Wissens und trotz seiner. Wer nichts weiß, kann auch um das Geheimnis nichts wissen.

Da ein wirkliches Geheimnis wirklich unaussprechbar, wirklich unsagbar ist, kann man es nur erspüren, in emotionalen Zuständen erfahren. Das aussprechbare Geheimnis ist nur das Geheimgehaltene. Das Unaussprechliche aber bedarf der Darstellung und zwar einer solchen, die sich den „magischen Kanälen“ unserer Sinne öffnet. Sprache kann nur dann Träger des Geheimnisse werden, wenn sie der magischen Vergegenwärtigung dient, also durch Poesie oder in rituellen Szenen. „Magische Bilder“ helfen unserer Vorstellungskraft, uns dem Geheimnis zu nähern ebenso wie die Musik.

>Nach dem Ende der politischen und theoretischen Orthodoxien und mit dem Eintritt in die Postmoderne haben wir gelernt, dass es die geheimniswahrenden Mechanismen der Gesellschaft sind, welche die wirksamsten sozialen Bindemittel und identitätsstiftenden Funktionen erzeugen und nicht etwa rationale Effektivität und formale Demokratie. Diese bieten nämlich nicht die sinnliche Qualität, die Spannung und Erregung, welche das elementare Gefühl „zu Sein“ erleben lassen.

Heute umgibt uns ein gewaltiges Gemisch von quasi-religiösen, massenmedialen und auch konsumorientierten Geheimnissen: vom Fan-Club bis zum Hollywood-Idol, von Fetisch-Kulturen bis zur Internet-Gnosis, kleine und kleinste Subkulturszenen und Kultfiguren der popular culture bis zur Esoterikwelle und Ritualpraktiken der neuen Religiosität, vom synthetischen Star Trek-Universum bis zu den Jedi-Rittern, von Harry Potter bis zur Mittelerde-Mythologie eines Tolkien. Wir ahnen, dass die sozialen und symbolischen Bindekräfte der Moderne dem Geheimnisvollen und dem Zauber auf das Innigste verbunden sind, was eben diese Moderne stets als irrational abgetan hatte.

Wir können heute nicht mehr unterscheiden, wo die Moderne das Geheimnisvolle instrumentalisiert und kulturindustriell ausbeutet, und wo die alten Kult- und Geheimnisformen sich der Mechanismen der Moderne bedienen, um fortzubestehen und sich weiter zu entwickeln. Nichts scheint heute falscher als Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“. Im Gegenteil hat sich Welt durch heftige „Verzauberungen“ zur Wehr gesetzt.

Hartmut Böhme postuliert: „Das Geheimnis ist ein Menschenrecht“ und warnt, „aus ihm ein bloßes Spiel für die Massenmedien zu machen, ist für die demokratische Entwicklung nicht weniger gefährlich als die Zerstörung des Geheimnisses in der Folter.“

Heute muss es uns darum gehen, eine zeit- und medienadäquate Kultur zu entwickeln, welche Kult und Demokratie, Geheimnis und Aufklärung, Sinnlichkeit und Logik vereinbar und vereint lebbar macht.