Die Tür öffnet sich
Gerd Scherm | Essays Die poetische Kaballa - Die Tür öffnet sich

Wenn man sich dem Gedankengebäude der Kabbala nähern will, sieht man sich erst einmal einem Trümmerfeld von Vorurteilen, Halbwahrheiten, Verfälschungen, bewussten Irreführungen, Wahrheitssplittern und echter Mystik gegenüber. Es dauert einige Zeit, bis man durch dieses Gestrüpp das Gebäude selbst erreicht. Und wenn man dort ist und beginnt, in dem Gebäude zu forschen und zu suchen, findet man so viele Türen, dass einem das Gefühl beschleicht, ein Menschenleben reicht nicht aus, sie alle zu öffnen. Doch es gibt einen Trost.
Gershom Scholem, der wohl beste Kenner kabbalistischer Traditionen im 20. Jahrhundert, schrieb in seinem Werk „Zur Kabbala und ihrer Symbolik“: „So etwas wie die Lehre der Kabbalisten gibt es nicht“. (1)
Jede und jeder muss hie seinen eigenen, ganz persönlichen Weg finden. Das heißt nicht, dass der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet ist. Wenn man sich einmal die Grundzüge erarbeitet hat, wird einem vielmehr die Entscheidung abverlangt, welche Schwerpunkte man für sich selbst setzen will. Es ist wie in anderen Wissensgebieten auch, ob Physik, Literatur oder Philosophie, nach einer gewissen Zeit entdeckt man seine Vorlieben und Stärken. Aus diesem Grund sind auch meine Ausführungen natürlicherweise beschränkt. Beschränkt durch den Umfang, den eine solche Betrachtung nicht überschreiten sollte und beschränkt durch meine subjektiv ausgewählten Aspekte zum Thema.

Die Kabbala, wörtlich Überlieferung, bildet zwar die Grundlage eines Zweigs der jüdischen Mystik, ist aber auch Basis der christlichen Mystik, sowie der Astrologie, des Tarot und der Zahlenmystik. Die rituelle magische Arbeit fußt ebenso in ihr wie die Grundanschauungen der Alchimisten.
Mithin ist die Kabbala der Stoff, aus dem Legenden gewoben werden. So tragen die zehn Kapitel in Umberto Eccos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ die Namen der zehn kabbalistischen Sphären von Kether bis Malkuth als Titel.
Der berühmte Golem des Prager Rabbi Juda Löw ben Bezalel ist ein kabbalistisches Geschöpf, das sowohl in die Volkslegenden Eingang gefunden hat, wie auch in die Literatur – von Jakob Grimm über Achim von Arnim und E. Th. A. Hoffmann bis Gustav Meyrink. Berühmte wie berüchtigte Magier wie Eliphas Levi, Madame Blavatsky, Aleister Crowley und der „Order of the Golden Dawn“ oder Dion Fortune und ihr „Circle of the Inner Light“ beriefen sich stets und immer wieder auf die Kabbala. Und im Zuge der Esoterik-Welle, die man eher als Esoterik-Schwemme bezeichnen sollte, nimmt die Zahl ernsthafter, aber leider vor allem oberflächlicher Werke zu diesem Thema fast monatlich zu.
Die Kabbala ist ein ebenso interessantes wie gefährliches Fahrwasser und eine sichere Möglichkeit, seinen Ruf als klardenkender, ernsthafter Mensch loszuwerden. Sie ist so vielfältig, so vielgestaltig, dass darin eine riesige Gefahr liegt, sich in Okkultismus und ähnlichem zu verlieren. Sie bietet aber auch eine große Chance, mittels eines komplexen Symbolsystems ganzheitliche Zusammenhänge zu erfassen und Mythos und Logos miteinander zu versöhnen. Die Kabbala ist nicht abgeschlossen, sondern der lebendige Archetypus und seine vitale Modifikation gleichermaßen. Sie ist ein kulturelles Erbe der gesamten Menschheit, nicht nur des jüdischen Volkes, dem wir diese Überlieferung verdanken. Sie ist ein Erbe, das unabhängig von Religion, Zeit und Raum erfahrbar und erlebbar ist.

Die Ursprünge der Kaballa

Anders als bei Entdeckungen oder Erfindungen lassen sich die Entstehungsdaten von Ideen meist nicht festlegen. Wann entstand die Idee der Freiheit? Wann wurde die Vision der Demokratie entworfen? Wann entstand die Freimaurerei?

Bei der Geschichte der Kabbala ist die Problematik ähnlich. Manche sehen ihre Ursprünge im pharaoischen Ägypten und schreiben es wahlweise Moses oder Aaron zu, die Kabbala auf den Weg ins gelobte Land gebracht zu haben. Wie auch immer, das erste kabbalistisch zu nennende Zeugnis, das wir kennen, ist ein kleines Büchlein mit wenigen Seiten, datiert auf das 2. bis 3. nachchristliche Jahrhundert, Sefer Jesira, das Buch der Schöpfung bzw. das Buch der Formung. In diesem, in Palästina erschienenen Bändchen, taucht erstmals das neugebildete hebräische Wort Sefiroth auf, werden die „32 wunderbaren Wege der Weisheit“ (2) beschrieben, aus denen sich das Symbol des kabbalistischen Lebensbaums aufbaut.

Um ca. 1180 taucht dann, bis heute ungeklärt wie und woher, die erste kabbalistische Schrift in Südfrankreich auf, das Buch Bahir, d.h. leuchtend.Ebenfalls ein schmales Bändchen, 30 bis 40 Seiten nur, ist es laut Gershom Scholem „der unglaublichste Text der hebräischen Literatur des Mittelalters“. (3)

Ungefähr 50 Jahre später entstand dann ebenfalls in Südfrankreich das sog. „Heilige Buch der Kabbala“, das Sefer Sohar, das Buch des Glanzes, das heute als das Hauptwerk der kabbalistischen Literatur gilt. (4)

Das Erscheinen sowohl des Buches Bahir, als auch des Buches Sohar fallen räumlich und zeitlich mit ungewöhnlichen Ereignissen zusammen. Weite Teile des Languedoc erlebten eine Periode religiösen Aufruhrs, in der nicht mehr die katholische Kirche herrschte, sondern die dualistische Religion der Katharer oder Albigenser. Natürlich kamen auch die jüdischen Gemeinden mit der Atmosphäre dieser fundamentalen religiösen Erneuerungen in Berührung, die im ganzen Land ein Klima des Aufbruchs im Glauben schuf. Soweit zum historischen Kontext.

Was machte nun die kabbalistischen Schriften so aufregend?

Scholem formuliert das wie folgt: „Das Anliegen der (jüdischen, Anm. des Verfassers) Philosophen und Theologen war auf die Reinheit des Gottesbegriffs gerichtet,...als Gegenschlag gegen die Welt des Mythos... Die Reinheit, um es kurz zu sagen, wird mit der Gefährdung der Lebendigkeit erkauft. Der lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf... So haben wir denn im Herzen der Kabbala einen Mythos der göttlichen Einheit als Verbindung der Urmächte allen Seins“. (5)

Hier berühren sich die Kabbala und die Gnosis, die vom klassischen rabbinischen Judentum als häretische Form im 2. Jahrhundert n.Chr. abgelehnt wurde, just zu jener Zeit also, als das Ur-Werk der Kabbalisten, das Buch der Schöpfung erstmals in Umlauf kam. Die Gnosis, eine der letzten großen Manifestationen des Mythos im religiösen Denken, fand in den Kabbalisten und ihren Schriften ihre Erben.

Wie eingangs erwähnt, bedeutet das Wort Kabbala schlicht Überlieferung. Nun möchte ich diese Bezeichnung als taktischen Schachzug betrachten, der den Anhängern dieser neuen und zugleich alten mythischen Auffassung Schutz bieten sollte, in dem sie nicht revolutionär Neues proklamierten, sondern sich auf eine, nie genauer bezeichnete Überlieferung, sprich Kabbala, als Legitimation ihrer Ansichten und Lehren beriefen.

Der Baum des Lebens
Gerd Scherm | Essays -  Die poetische Kaballa - Der baum des Lebens

Das zentrale Symbol, die Glyphe, das Mandala, das Diagramm der Kabbala ist der Baum des Lebens, hebräisch Ots Chaim.
In fast allen alten Kulturkreisen ist der Lebensbaum Sinnbild für das Prinzip der kosmischen Ordnung. So stand im Paradies nicht nur der Baum der Erkenntnis mit seinen verbotenen Früchten, sondern als zweiter der Baum des Lebens. Die Stämme dieser beiden Bäume sollen später im Innern der beiden Säulen Jakin und Boas vor dem Salomonischen Tempel gewesen sein. Auch der germanisch-skandinavische Kulturkreis kennt mit der Weltenesche Yggdrasil ein vergleichbares Symbol.

Doch nirgendwo wurde dieses Symbol so differenziert ausgearbeitet und interpretiert wie in der Kabbala, wo der Lebensbaum zugleich Symbol für den Mikro- und Makrokosmos, das Prinzip des Universums und des inneren Menschen ist. Der Baum des Lebens ist eine „Landkarte“, ein „Reiseführer“ zum Verständnis des Seins wie des Selbst. (6)

Wie ist nun der Baum des Lebens aufgebaut?

Er besteht aus zehn Sphären, korrekt Sefiroth genannt. Dieses hebräische Wort, das im Buch der Schöpfung erstmals auftaucht, bedeutet sowohl „Zahl" als auch „Emanation", der Singular lautet Sefirah. (7)

Diese Sefiroth sind von oben (Kether, die Krone) bis unten (Malkuth, das Reich) von eines bis zehn durchnummeriert. Hinzu kommt noch Da'ath, die Sefirah ohne Zahl, doch dazu später mehr.

Verbunden sind die zehn Sefiroth mit 22 Pfaden, deren Nummerierung mit 11 beginnt, so dass man von den 32 Pfaden der Weisheit spricht. Diese Zählung beruht auf der Grundlage, dass man die einzelnen Sefiroth sowohl als Emanation, als auch als Pfad sieht.

Die erste Sefirah bzw. Sphäre ist also Kether

Oft wird sie so dargestellt, dass sie mit drei Schleiern umgeben ist. Kether ist der Ursprung, aus dem alles strömt, alles emaniert. Alle folgenden Sphären kann man sich wie Gefäße vorstellen, die vom vorherigen Gefäß gefüllt werden. Da dies ständig geschieht, fließen die Gefäße stets über ins nächste. Das unterste Gefäß ist Malkuth, der Bereich der physischen Welt, also der Bereich, in dem wir leben. Durch die permanenten Emanationen ist für den Kabbalisten die Schöpfung nie abgeschlossen, weder am siebten, noch an einem anderen Tag „danach“, sondern immerwährend. Jetzt, in diesem Augenblick, findet Schöpfung statt.

Hier zeigt sich die dynamische Auffassung des panta rhei, des alles-ist-im-Fluss erweitert durch die Ansicht, dass dieser Fluss ständig von einer Quelle, nämlich Kether, gespeist wird.
Das war und ist, gegenüber einer statischen Auffassung von Welt, revolutionär.
Auf der einen Seite ein Weltbild, das von einem einmaligen, abgeschlossenen Schöpfungsakt ausgeht, in der dann linear die Zeit bis zum Ende, dem Jüngsten Gericht, dem Armageddon, wie auch immer genannt, abgelebt wird; auf der anderen Seite ein Weltbild, das von permanenter, zeitloser Schöpfung ausgeht.
Das heißt nichts anderes, als dass wir uns in jedem Moment im Ursprung der Welt befinden, wie sie sich im nächsten Moment darstellt. Das bedeutet keineswegs, dass die Kabbalisten das Vorher oder die Kausalität abgeschafft haben, es bedeutet aber, dass Realität veränderbar ist.

Eine physisch wie psychisch abgeschlossene Schöpfung würde alles und jeden festlegen bis ans Ende der Zeit. Eine permanente Schöpfung, in der die Geschöpfe selbst gestaltende Kräfte sind, beinhaltet die Veränderbarkeit, die Möglichkeit zur Entwicklung und zur Kreativität.

Soweit zum Grundprinzip der Kräfte innerhalb des kabbalistischen Lebensbaums, wobei die Pfade nicht die Kanäle für die Energieflüsse sind, die Pfade haben andere Qualitäten.

Nun zur Struktur der „inneren“ Qualitäten der Sefiroth, die ich später auch inhaltlich-poetisch vorstellen werde.

Struktur der „inneren“ Qualitäten der Sefiroth
Gerd Scherm | Essays -  Die poetische Kaballa - Die oberen drei Sphären – Kether (Krone)

Die oberen drei Sphären – Kether (Krone), Chokmah (Weisheit) und Binah (Verständnis) – werden auch die göttliche oder die überirdische Triade genannt.

Von Kether aus beginnt der Strom der Emanationen, erreicht Chokmah, wo er quasi zur Initialzündung wird, die sich auf Binah richtet und dort empfangen wird. Chokmah und Binah kann man daher als das urmännliche und das urweibliche Prinzip sehen, die Urkomplementarität, die zusammen mit Kether die oberste Trinität bilden.

Gerd Scherm | Essays - Die poetische Kaballa - Da'ath

Dann kommt eine Zone, die in den üblichen Darstellungen des Ots Chaim nur selten abgebildet ist, die aber umso mehr Gefahren in sich birgt: der Abyss, der Abgrund. Auf ihm, an ihm oder in ihm, befindet sich die Sphäre ohne Zahl, genannt Da'ath, welches Wissen bedeutet, und zwar ohne (Binahs) Verständnis.

Da'ath ist eine sehr schwierige Sphäre, weil sie zum einen nicht auf dem Baum des Lebens liegt , zum anderen aber stets dem Abyss zugeordnet wird und also unterhalb von Binah liegen muss, zum dritten aber Da'ath auch in jeder der Sefiroth vier bis zehn enthalten ist. Am anschaulichsten ist es wohl, sich ein großes Da'ath am, auf oder im Abyss vorzustellen und ein kleines Da'ath in jeder der sieben unteren Sefiroth. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass in jeder dieser sieben auch ein eigener Sphären-Abyss liegt.

Chesed und Geburah

Nach der überirdischen Triade und nach Da'ath beginnt die Zone des Konkreten und damit der Bereich der ambivalenten Sefiroth. Den bereits erwähnten Abyss in jeder Sphäre könnte man als Ambivalenzlinie bezeichnen, jene Markierung, wo eine positive Eigenschaft ins Negative kippt oder umgekehrt.
In der vierten Sphäre Chesed, Barmherzigkeit, finden wir daher zum Beispiel die umsichtige Führungspersönlichkeit ebenso wie den Tyrannen, die Weitsicht ebenso wie die Engstirnigkeit.
In der fünften Sphäre Geburah, Stärke, finden sich nebeneinander das Schwert des Henkers und das Skalpell des Chirurgen, das Gesetz, das Freiheit gibt, aber auch den Schuldigen bestraft, die Grausamkeit des Krieges wie die Kraft zu Überleben. Doch dazu später mehr im poetischen Teil, der diesem ambivalenten Sachverhalt besser gerecht werden kann.

Wenn man sich der Qualitäten der einzelnen Sphären, sprich Sefiroth, bewusst ist, kann man gezielt mit ihnen arbeiten. Der aufrichtige Kabbalist wird dabei darauf achten, dass keine Sefirah ein Übergewicht in seinem Denken und Handeln erlangt und so ein Ungleichgewicht entstehen würde. Vielmehr geht es ihm um eine Ausgleichung der Elemente und eine Harmonisierung des Gesamtgefüges.

Bevor ich zum dritten und letzten Teil meiner Ausführungen komme, möchte ich hier noch erwähnen, dass die zehn Sefiroth und die 22 Pfade die Grundlage des Tarot sind, jenes alten Wahrsage-Systems, das sich heute wieder zunehmender Beliebtheit erfreut. Die Zahlenwerte As bis Zehn entsprechen dabei den Sefiroth in ihren vier verschiedenen Elementaspekten – Feuer, Erde, Wasser und Luft, aus denen sich die vier Spielkartenfarben entwickelten. Die 22 Bilder des sog. „Großen Arkanums“ entsprechen den Qualitäten der 22 Pfade des Lebensbaums.

Ein poetischer Gang durch die Sphären der Kabbala

Ich hatte schon bemerkt, dass die Kabbala ein Haus mit vielen Türen ist.
Hinter ihnen finden sich vielfältige Gebiete – die Mystik, die Magie, die Numerologie, die Lehre von den verborgenen Worten und den geheimen Namen, die Engelsgestalten und auch die Dämonen. Man kann mit Hilfe kabbalistischer Methoden analysieren und verändern. Einige der neuzeitlichen psychologischen Hilfsmittel wie NLP (neurolinguistische Programmierung), Quatrinity oder gezielte Meditationen sind aus kabbalistischer Sicht Wiederentdeckungen oder „Neuerfindungen des Wasserkochens“.

Es gibt Schlüssel zu jeder Tür des großen Gebäudes „Kabbala“, man muss sie nur suchen und finden.
Da ich Schriftsteller und Dichter bin, mich dem Logos und dem Mythos gleichermaßen verpflichtet fühle, versuche ich die Eigenschaften der Sefiroth auf meine, poetische Weise darzustellen. Denn ich weiß, dass die Poesie oft mehr offenbaren kann, als die gescheitesten theoretischen Abhandlungen. Ich habe mich der Kabbala mit Kopf und Bauch genähert und hoffe, dass in meinen Worten etwas von der Kraft zu spüren ist, die mich zu meinen Gedichten inspiriert hat. (9)

Ich lade daher ein zu einem poetischen Gang durch die Qualitäten der Sefiroth, oben beginnend bei Kether, deutsch Krone. Wie bereits erwähnt, wird in etlichen grafischen Darstellungen des Ots Chaim Kether von drei Schleiern umgeben. Diese Darstellungen gehen davon aus, dass auch Kether selbst einen Ursprung haben muss. Dieser Ursprung ist jedoch so fern der Vorstellungskraft des menschlichen Geistes, dass er nicht fassbar ist. Man bezeichnet diese drei Schleier als ain, ain soph und ain soph aur, d.h. „Nichts“, „Nichts wird“ und „Nichts ist“. Kether wird auch „der Alte der Alten“ genannt oder einfach Urpunkt. Die Farbe von Kether ist Weiß.