Wolf Peter Schnetz

Der Juden-Heggisch und andere
Kindheits-Erinnerungen von Gerd Scherm

In einem alten Fachwerkhaus mit modernen Eisen-Skulpturen im Bauerngarten und noch dazu mit einer leibhaftigen Geiß namens Rosa als "Rasenmäher" für die kleine Wiese hinter dem Zaun hat Gerd Scherm mit Friederike Gollwitzer sein Kunstkontor in Binzwangen im Naturpark Frankenhöhe malerisch eingerichtet. Man findet es zwischen Fürth und Rothenburg nach einigen Umwegen in der Nähe des Fränkischen Freilandmuseums Bad Windsheim im Burgschatten der mittelalterlichen Festung Colmberg, wo Gerd Scherm die Reihe "Kunst und Literatur" im Rittersaal und Burghof erfolgreich betreut.

Seit mehr als 30 Jahren "inszeniert" der Lyriker, Erzähler, Grafiker, Maler, Bildhauer, Aktionskünstler und aktuell gegenwärtige Internet-"Werker" Gerd Scherm (geb. 1950) Projekte in seiner Heimatstadt Fürth, neuerdings in Verbindung mit der Kunstachse Colmberg, Binzwangen, Rothenburg. In Fürth wurde Gerd Scherm bereits 1972 mit einem Kulturförderpreis ausgezeichnet. 1995 erhielt er den angesehenen Wolfram-von-Eschenbach-Förderpreis des Bezirks Mittelfranken.
Als Literat und Geschichtenerzähler blättert Gerd Scherm nun in autobiographischen Skizzen, die sich mittlerweile zu knapp 30 verdichteten Erinnerungen aus Kindheit und Jugend in der Fürther Altstadt bündeln.
"Hoffen kostet nichts", so der Titel des Rückblicks auf die 50er und die frühen 60er des vorigen Jahrhunderts mit "Ami-Konserven", Schulspeisung, Schrotthandel, Baracken, Erhards Wirtschaftswunderlandzigarren vom Tabakladen nebenan, wunderbaren Wirtshäusern wie der "Karpfenburg" und viel Verdrängtem aus der Nazi-Zeit, zugeschüttet von der Staubschicht des Vergessens.
Die Fürther Fama: Niemand war dabei. Keiner hat etwas gewußt. Hier gab es keine Verfolgungen. Nie. Gerd Scherm widerlegt die Legenden und spürt mit unschuldigen hartnäckigen Fragen aus der Perspektive eines Heranwachsenden der Vergangenheit nach. Besonders anschaulich gelingt dies in der Geschichte vom "Juden-Heggisch". Da heißt es:
"Einer der geheimnisumwittertsten Orte im damaligen Fürth war für uns Kinder der Juden-Heggisch am Gänsberg nahe der Rednitz. Von Juden wußte ich nicht mehr als ein Raunen. Die Erwachsenen wirkten seltsam verstört, wenn das Wort Juden fiel. Heute weiß ich, daß das Wort Heggisch eine Verballhornung des jiddischen Worts hek-djesch ist, das Hospital bedeutet. [...] Gräber über Gräber - der Juden-Heggisch war ein Friedhof! [...] So sah es aus meiner Perspektive aus, als ob die einen Fremden, die Juden, von den anderen Fremden, den Nazis, verfolgt und umgebracht worden waren und sich die Fürther dabei in die Rolle der verstörten, hilflosen und verängstigten Zuschauer fügen mußten. Ein Jahr später las ich das Tagebuch der Anne Frank."
In der Nachbarschaft des alten Hospitals war der jüdische Friedhof gelegen, der hinter hohen Mauern in einem verwilderten Garten den Blicken entzogen war.

Mit argwöhnisch listigem, doppelbödigen Witz gibt Gerd Scherm Einblicke in die Stadtgeschichte, wie sie in der offiziellen Chronik nicht zu finden sind:
"Ein Bild jener Zeit, die geprägt war von Schwarz und Weiß und sehr, sehr viel Grau."
Angereichert durch Fundsachen aus Foto-Alben wird in diesen nostalgisch erwärmenden Stücken der Kontrast sichtbar, der die nahe Vergangenheit mit der schnell enteilenden Gegenwart verknüpft: Ein unverzichtbares Erinnern in der Nachbarschaft der Stadt der Reichsparteitage und ihrer Aufmärsche bis zum totalen Krieg, Völkermord und "End-Sieg" inbegriffen. Lachen und Weinen runden sich zu einem schmerzlich wahren Bild.

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