Gerd Scherm

Die poetische Kabbala

Die Tür öffnet sich

Wenn man sich dem Gedankengebäude der Kabbala nähern will, sieht man sich erst einmal einem Trümmerfeld von Vorurteilen, Halbwahrheiten, Verfälschungen, bewussten Irreführungen, Wahrheitssplittern und echter Mystik gegenüber. Es dauert einige Zeit, bis man durch dieses Gestrüpp das Gebäude selbst erreicht. Und wenn man dort ist und beginnt, in dem Gebäude zu forschen und zu suchen, findet man so viele Türen, dass einem das Gefühl beschleicht, ein Menschenleben reicht nicht aus, sie alle zu öffnen. Doch es gibt einen Trost.
Gershom Scholem, der wohl beste Kenner kabbalistischer Traditionen im 20. Jahrhundert, schrieb in seinem Werk „Zur Kabbala und ihrer Symbolik“: „So etwas wie die Lehre der Kabbalisten gibt es nicht“. (1)
Jede und jeder muss hie seinen eigenen, ganz persönlichen Weg finden. Das heißt nicht, dass der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet ist. Wenn man sich einmal die Grundzüge erarbeitet hat, wird einem vielmehr die Entscheidung abverlangt, welche Schwerpunkte man für sich selbst setzen will. Es ist wie in anderen Wissensgebieten auch, ob Physik, Literatur oder Philosophie, nach einer gewissen Zeit entdeckt man seine Vorlieben und Stärken. Aus diesem Grund sind auch meine Ausführungen natürlicherweise beschränkt. Beschränkt durch den Umfang, den eine solche Betrachtung nicht überschreiten sollte und beschränkt durch meine subjektiv ausgewählten Aspekte zum Thema.

Die Kabbala, wörtlich Überlieferung, bildet zwar die Grundlage eines Zweigs der jüdischen Mystik, ist aber auch Basis der christlichen Mystik, sowie der Astrologie, des Tarot und der Zahlenmystik. Die rituelle magische Arbeit fußt ebenso in ihr wie die Grundanschauungen der Alchimisten.
Mithin ist die Kabbala der Stoff, aus dem Legenden gewoben werden. So tragen die zehn Kapitel in Umberto Eccos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ die Namen der zehn kabbalistischen Sphären von Kether bis Malkuth als Titel.
Der berühmte Golem des Prager Rabbi Juda Löw ben Bezalel ist ein kabbalistisches Geschöpf, das sowohl in die Volkslegenden Eingang gefunden hat, wie auch in die Literatur – von Jakob Grimm über Achim von Arnim und E. Th. A. Hoffmann bis Gustav Meyrink. Berühmte wie berüchtigte Magier wie Eliphas Levi, Madame Blavatsky, Aleister Crowley und der „Order of the Golden Dawn“ oder Dion Fortune und ihr „Circle of the Inner Light“ beriefen sich stets und immer wieder auf die Kabbala. Und im Zuge der Esoterik-Welle, die man eher als Esoterik-Schwemme bezeichnen sollte, nimmt die Zahl ernsthafter, aber leider vor allem oberflächlicher Werke zu diesem Thema fast monatlich zu.
Die Kabbala ist ein ebenso interessantes wie gefährliches Fahrwasser und eine sichere Möglichkeit, seinen Ruf als klardenkender, ernsthafter Mensch loszuwerden. Sie ist so vielfältig, so vielgestaltig, dass darin eine riesige Gefahr liegt, sich in Okkultismus und ähnlichem zu verlieren. Sie bietet aber auch eine große Chance, mittels eines komplexen Symbolsystems ganzheitliche Zusammenhänge zu erfassen und Mythos und Logos miteinander zu versöhnen. Die Kabbala ist nicht abgeschlossen, sondern der lebendige Archetypus und seine vitale Modifikation gleichermaßen. Sie ist ein kulturelles Erbe der gesamten Menschheit, nicht nur des jüdischen Volkes, dem wir diese Überlieferung verdanken. Sie ist ein Erbe, das unabhängig von Religion, Zeit und Raum erfahrbar und erlebbar ist.

Die Ursprünge der Kabbala

Anders als bei Entdeckungen oder Erfindungen lassen sich die Entstehungsdaten von Ideen meist nicht festlegen. Wann entstand die Idee der Freiheit? Wann wurde die Vision der Demokratie entworfen? Wann entstand die Freimaurerei?
Bei der Geschichte der Kabbala ist die Problematik ähnlich. Manche sehen ihre Ursprünge im pharaoischen Ägypten und schreiben es wahlweise Moses oder Aaron zu, die Kabbala auf den Weg ins gelobte Land gebracht zu haben. Wie auch immer, das erste kabbalistisch zu nennende Zeugnis, das wir kennen, ist ein kleines Büchlein mit wenigen Seiten, datiert auf das 2. bis 3. nachchristliche Jahrhundert, Sefer Jesira, das Buch der Schöpfung bzw. das Buch der Formung. In diesem, in Palästina erschienenen Bändchen, taucht erstmals das neugebildete hebräische Wort Sefiroth auf, werden die „32 wunderbaren Wege der Weisheit“ (2) beschrieben, aus denen sich das Symbol des kabbalistischen Lebensbaums aufbaut.
Um ca. 1180 taucht dann, bis heute ungeklärt wie und woher, die erste kabbalistische Schrift in Südfrankreich auf, das Buch Bahir, d.h. leuchtend.Ebenfalls ein schmales Bändchen, 30 bis 40 Seiten nur, ist es laut Gershom Scholem „der unglaublichste Text der hebräischen Literatur des Mittelalters“. (3)
Ungefähr 50 Jahre später entstand dann ebenfalls in Südfrankreich das sog. „Heilige Buch der Kabbala“, das Sefer Sohar, das Buch des Glanzes, das heute als das Hauptwerk der kabbalistischen Literatur gilt. (4)
Das Erscheinen sowohl des Buches Bahir, als auch des Buches Sohar fallen räumlich und zeitlich mit ungewöhnlichen Ereignissen zusammen. Weite Teile des Languedoc erlebten eine Periode religiösen Aufruhrs, in der nicht mehr die katholische Kirche herrschte, sondern die dualistische Religion der Katharer oder Albigenser. Natürlich kamen auch die jüdischen Gemeinden mit der Atmosphäre dieser fundamentalen religiösen Erneuerungen in Berührung, die im ganzen Land ein Klima des Aufbruchs im Glauben schuf. Soweit zum historischen Kontext.

Was machte nun die kabbalistischen Schriften so aufregend?
Scholem formuliert das wie folgt: „Das Anliegen der (jüdischen, Anm. des Verfassers) Philosophen und Theologen war auf die Reinheit des Gottesbegriffs gerichtet,...als Gegenschlag gegen die Welt des Mythos... Die Reinheit, um es kurz zu sagen, wird mit der Gefährdung der Lebendigkeit erkauft. Der lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf... So haben wir denn im Herzen der Kabbala einen Mythos der göttlichen Einheit als Verbindung der Urmächte allen Seins“. (5)
Hier berühren sich die Kabbala und die Gnosis, die vom klassischen rabbinischen Judentum als häretische Form im 2. Jahrhundert n.Chr. abgelehnt wurde, just zu jener Zeit also, als das Ur-Werk der Kabbalisten, das Buch der Schöpfung erstmals in Umlauf kam. Die Gnosis, eine der letzten großen Manifestationen des Mythos im religiösen Denken, fand in den Kabbalisten und ihren Schriften ihre Erben.

Wie eingangs erwähnt, bedeutet das Wort Kabbala schlicht Überlieferung. Nun möchte ich diese Bezeichnung als taktischen Schachzug betrachten, der den Anhängern dieser neuen und zugleich alten mythischen Auffassung Schutz bieten sollte, in dem sie nicht revolutionär Neues proklamierten, sondern sich auf eine, nie genauer bezeichnete Überlieferung, sprich Kabbala, als Legitimation ihrer Ansichten und Lehren beriefen.

Der Baum des Lebens

      Das zentrale Symbol, die Glyphe, das Mandala, das Diagramm der Kabbala ist der Baum des Lebens, hebräisch Ots Chaim.
In fast allen alten Kulturkreisen ist der Lebensbaum Sinnbild für das Prinzip der kosmischen Ordnung. So stand im Paradies nicht nur der Baum der Erkenntnis mit seinen verbotenen Früchten, sondern als zweiter der Baum des Lebens. Die Stämme dieser beiden Bäume sollen später im Innern der beiden Säulen Jakin und Boas vor dem Salomonischen Tempel gewesen sein. Auch der germanisch-skandinavische Kulturkreis kennt mit der Weltenesche Yggdrasil ein vergleichbares Symbol.
Doch nirgendwo wurde dieses Symbol so differenziert ausgearbeitet und interpretiert wie in der Kabbala, wo der Lebensbaum zugleich Symbol für den Mikro- und Makrokosmos, das Prinzip des Universums und des inneren Menschen ist. Der Baum des Lebens ist eine „Landkarte“, ein „Reiseführer“ zum Verständnis des Seins wie des Selbst. (6)

Wie ist nun der Baum des Lebens aufgebaut?
Er besteht aus zehn Sphären, korrekt Sefiroth genannt. Dieses hebräische Wort, das im Buch der Schöpfung erstmals auftaucht, bedeutet sowohl „Zahl" als auch „Emanation", der Singular lautet Sefirah. (7)
Diese Sefiroth sind von oben (Kether, die Krone) bis unten (Malkuth, das Reich) von eines bis zehn durchnummeriert. Hinzu kommt noch Da'ath, die Sefirah ohne Zahl, doch dazu später mehr.
Verbunden sind die zehn Sefiroth mit 22 Pfaden, deren Nummerierung mit 11 beginnt, so dass man von den 32 Pfaden der Weisheit spricht. Diese Zählung beruht auf der Grundlage, dass man die einzelnen Sefiroth sowohl als Emanation, als auch als Pfad sieht.

Die erste Sefirah bzw. Sphäre ist also Kether.
Oft wird sie so dargestellt, dass sie mit drei Schleiern umgeben ist. Kether ist der Ursprung, aus dem alles strömt, alles emaniert. Alle folgenden Sphären kann man sich wie Gefäße vorstellen, die vom vorherigen Gefäß gefüllt werden. Da dies ständig geschieht, fließen die Gefäße stets über ins nächste. Das unterste Gefäß ist Malkuth, der Bereich der physischen Welt, also der Bereich, in dem wir leben. Durch die permanenten Emanationen ist für den Kabbalisten die Schöpfung nie abgeschlossen, weder am siebten, noch an einem anderen Tag „danach“, sondern immerwährend. Jetzt, in diesem Augenblick, findet Schöpfung statt.
Hier zeigt sich die dynamische Auffassung des panta rhei, des alles-ist-im-Fluss erweitert durch die Ansicht, dass dieser Fluss ständig von einer Quelle, nämlich Kether, gespeist wird.
Das war und ist, gegenüber einer statischen Auffassung von Welt, revolutionär.
Auf der einen Seite ein Weltbild, das von einem einmaligen, abgeschlossenen Schöpfungsakt ausgeht, in der dann linear die Zeit bis zum Ende, dem Jüngsten Gericht, dem Armageddon, wie auch immer genannt, abgelebt wird; auf der anderen Seite ein Weltbild, das von permanenter, zeitloser Schöpfung ausgeht.
Das heißt nichts anderes, als dass wir uns in jedem Moment im Ursprung der Welt befinden, wie sie sich im nächsten Moment darstellt. Das bedeutet keineswegs, dass die Kabbalisten das Vorher oder die Kausalität abgeschafft haben, es bedeutet aber, dass Realität veränderbar ist.
Eine physisch wie psychisch abgeschlossene Schöpfung würde alles und jeden festlegen bis ans Ende der Zeit. Eine permanente Schöpfung, in der die Geschöpfe selbst gestaltende Kräfte sind, beinhaltet die Veränderbarkeit, die Möglichkeit zur Entwicklung und zur Kreativität.
Soweit zum Grundprinzip der Kräfte innerhalb des kabbalistischen Lebensbaums, wobei die Pfade nicht die Kanäle für die Energieflüsse sind, die Pfade haben andere Qualitäten.

Nun zur Struktur der „inneren“ Qualitäten der Sefiroth, die ich später auch inhaltlich-poetisch vorstellen werde.

Die oberen drei Sphären – Kether (Krone), Chokmah (Weisheit) und Binah (Verständnis) – werden auch die göttliche oder die überirdische Triade genannt.
Von Kether aus beginnt der Strom der Emanationen, erreicht Chokmah, wo er quasi zur Initialzündung wird, die sich auf Binah richtet und dort empfangen wird. Chokmah und Binah kann man daher als das urmännliche und das urweibliche Prinzip sehen, die Urkomplementarität, die zusammen mit Kether die oberste Trinität bilden.

Dann kommt eine Zone, die in den üblichen Darstellungen des Ots Chaim nur selten abgebildet ist, die aber umso mehr Gefahren in sich birgt: der Abyss, der Abgrund. Auf ihm, an ihm oder in ihm, befindet sich die Sphäre ohne Zahl, genannt Da'ath, welches Wissen bedeutet, und zwar ohne (Binahs) Verständnis.
Da'ath ist eine sehr schwierige Sphäre, weil sie zum einen nicht auf dem Baum des Lebens liegt , zum anderen aber stets dem Abyss zugeordnet wird und also unterhalb von Binah liegen muss, zum dritten aber Da'ath auch in jeder der Sefiroth vier bis zehn enthalten ist. Am anschaulichsten ist es wohl, sich ein großes Da'ath am, auf oder im Abyss vorzustellen und ein kleines Da'ath in jeder der sieben unteren Sefiroth. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass in jeder dieser sieben auch ein eigener Sphären-Abyss liegt.

Die Gefahr von Da'ath ist das Wissen, das ohne Verantwortung, ohne Verständnis und ohne Menschlichkeit benützt wird. Gerade unser wissenschaftliches Zeitalter kennt genügend Beispiele für die Gefahren dieser Sphäre.

Nach der überirdischen Triade und nach Da'ath beginnt die Zone des Konkreten und damit der Bereich der ambivalenten Sefiroth. Den bereits erwähnten Abyss in jeder Sphäre könnte man als Ambivalenzlinie bezeichnen, jene Markierung, wo eine positive Eigenschaft ins Negative kippt oder umgekehrt.
In der vierten Sphäre Chesed, Barmherzigkeit, finden wir daher zum Beispiel die umsichtige Führungspersönlichkeit ebenso wie den Tyrannen, die Weitsicht ebenso wie die Engstirnigkeit.
In der fünften Sphäre Geburah, Stärke, finden sich nebeneinander das Schwert des Henkers und das Skalpell des Chirurgen, das Gesetz, das Freiheit gibt, aber auch den Schuldigen bestraft, die Grausamkeit des Krieges wie die Kraft zu Überleben. Doch dazu später mehr im poetischen Teil, der diesem ambivalenten Sachverhalt besser gerecht werden kann.

Wenn man sich der Qualitäten der einzelnen Sphären, sprich Sefiroth, bewusst ist, kann man gezielt mit ihnen arbeiten. Der aufrichtige Kabbalist wird dabei darauf achten, dass keine Sefirah ein Übergewicht in seinem Denken und Handeln erlangt und so ein Ungleichgewicht entstehen würde. Vielmehr geht es ihm um eine Ausgleichung der Elemente und eine Harmonisierung des Gesamtgefüges.

Bevor ich zum dritten und letzten Teil meiner Ausführungen komme, möchte ich hier noch erwähnen, dass die zehn Sefiroth und die 22 Pfade die Grundlage des Tarot sind, jenes alten Wahrsage-Systems, das sich heute wieder zunehmender Beliebtheit erfreut. Die Zahlenwerte As bis Zehn entsprechen dabei den Sefiroth in ihren vier verschiedenen Elementaspekten – Feuer, Erde, Wasser und Luft, aus denen sich die vier Spielkartenfarben entwickelten. Die 22 Bilder des sog. „Großen Arkanums“ entsprechen den Qualitäten der 22 Pfade des Lebensbaums.

Ein poetischer Gang durch die Sphären der Kabbala

Ich hatte schon bemerkt, dass die Kabbala ein Haus mit vielen Türen ist.
Hinter ihnen finden sich vielfältige Gebiete – die Mystik, die Magie, die Numerologie, die Lehre von den verborgenen Worten und den geheimen Namen, die Engelsgestalten und auch die Dämonen. Man kann mit Hilfe kabbalistischer Methoden analysieren und verändern. Einige der neuzeitlichen psychologischen Hilfsmittel wie NLP (neurolinguistische Programmierung), Quatrinity oder gezielte Meditationen sind aus kabbalistischer Sicht Wiederentdeckungen oder „Neuerfindungen des Wasserkochens“.
Es gibt Schlüssel zu jeder Tür des großen Gebäudes „Kabbala“, man muss sie nur suchen und finden.
Da ich Schriftsteller und Dichter bin, mich dem Logos und dem Mythos gleichermaßen verpflichtet fühle, versuche ich die Eigenschaften der Sefiroth auf meine, poetische Weise darzustellen. Denn ich weiß, dass die Poesie oft mehr offenbaren kann, als die gescheitesten theoretischen Abhandlungen. Ich habe mich der Kabbala mit Kopf und Bauch genähert und hoffe, dass in meinen Worten etwas von der Kraft zu spüren ist, die mich zu meinen Gedichten inspiriert hat. (9)

Ich lade daher ein zu einem poetischen Gang durch die Qualitäten der Sefiroth, oben beginnend bei Kether, deutsch Krone. Wie bereits erwähnt, wird in etlichen grafischen Darstellungen des Ots Chaim Kether von drei Schleiern umgeben. Diese Darstellungen gehen davon aus, dass auch Kether selbst einen Ursprung haben muss. Dieser Ursprung ist jedoch so fern der Vorstellungskraft des menschlichen Geistes, dass er nicht fassbar ist. Man bezeichnet diese drei Schleier als ain, ain soph und ain soph aur, d.h. „Nichts“, „Nichts wird“ und „Nichts ist“. Kether wird auch „der Alte der Alten“ genannt oder einfach Urpunkt. Die Farbe von Kether ist Weiß.

Kether – die 1. Sphäre

      Die Krone über dem Haupt
Der verborgene Urquell
Der Anfang ohne Anfang
Alle Zeit ohne Zeit
Reines Sein ohne Form
Ständiges Werden ohne Vergehen
Die Möglichkeit aller Möglichkeiten
Der Punkt im Kreis
EHYEH
ich bin
der ich bin

Chokmah – die 2. Sphäre

Die zweite Sphäre Chokmah, die Weisheit, hatte ich bereits als Initialzündung bezeichnet. Sie wird auch der höchste Vater genannt (10) und entspricht dem Tetragrammaton, also den vier Konsonanten des Gottesnamens Jod-He-Vau-He.
Die hervorstechende Eigenschaft dieser Sefirah ist also der Impuls an sich, ohne den nichts möglich ist. Die Farbe von Chokmah ist Grau.

      AUM ist gesprochen
Der Punkt dehnt sich zur Linie
Die Dynamik des Seins sehnt sich nach Manifestation
Die wortlose Weisheit jenseits aller Illusion
Das graue Licht gebiert seine prismatischen Kinder
Der phallische Impuls
der Geruch des Ziegenbocks, der Schrei des Katers
das yinlose Yang
kennt die Möglichkeit der heiligen Vereinigung
Strebende Bewegung zum Gefäß des Lebens
Es werde Licht

Binah – die 3. Sphäre

Die dritte Sphäre ist Binah, das Verstehen, die von Chokmah den Impuls empfängt, ist also das urweibliche Prinzip. Diese Sefirah wird deshalb häufig mit der Urmutter und mit Gaia, der Ur-Erdgöttin gleichgesetzt. Ein anderer Name für Binah ist auch die höchste Mutter, die Farbe dieser Sphäre ist Schwarz.

      Das schwarze Meer des Empfangens und Gebens
Das Grauen der Geburt, die den Tod in sich trägt
Der Stein des Kronos
Die Sichel des Saturn
Die Sense der Zeit
Die Vision der Trauer
Die Erfahrung des Leids
Das Konzept der Apokalypse
Der Ursprung des Glaubens
Die Wurzel des Verstehens
Die Idee der Mutter jeglicher Materie
Ebbe und Flut des Seins

Da'ath – die Sphäre ohne Zahl

Eine der interessantesten Erscheinungen der Kabbala ist die Sefirah, die keine Sefirah ist – Da'ath, das Wissen. Manchmal wird sie auch das falsche Haupt genannt (11) und ihre Lage am Abyss kennzeichnet auch die Grenze des konkret Fassbaren. Menschen, die das Wissen zu ihrem Gott erheben, verehren, auch wenn sie sich als Atheisten bezeichnen, den „Gott Da'ath“, da sie nichts gelten lassen, was nicht zählbar, messbar und wägbar ist. Die Gefahr von Da'ath ist das Wissen ohne Verstehen und ohne Verantwortung. Die Wissenschaft, die glaubt, alles Denkbare auch machen zu müssen, ohne Rücksicht auf die Menschen und die Umwelt, hat hier ihr Zuhause. Die positiven Aspekte von Da'ath sind u.a. die Möglichkeit zur Erkenntnis und das Potenzial des Werdens, also die Entwicklungsfähigkeit. Die Farbe von Da'ath ist Lavendel.

      Das wissende Sein
auf dem Gipfel der heiligen Berge
Der Platz auf der Schneide
zwischen Licht und Dunkelheit
Die Verlockung der Wissenschaft
der verschlungenen Seelen
Der Abgrund der Bildung ohne wahres Verständnis
Die Pforte zu den Dämonen der Wertlosigkeit
Der Pfad Satans
und die Erkenntnis des Erlösers
Die Wahrnehmung Deiner selbst

Chesed – die 4. Sphäre

Mit der vierten Sphäre Chesed, die Barmherzigkeit, betreten wir die Gefilde des Konkreten. Eine andere Bezeichnung für diese Sefirah ist Liebe, und zwar die übergreifende, transpersonale Liebe. Es ist jene erwähnte Sphäre der guten und der schlechten Herrscher, aber auch die Sphäre der Vision, des großen Plans, der zukünftigen besseren Welt. Hier ist auch die freimaurerische Vision vom Tempel der Humanität anzusiedeln. Die Farbe von Chesed ist Blau.

      Das Abstrakte konkretisiert sich
im blauen Licht der Kreativität
Der Thron des Friedens in der Vision der Liebe
Die erste Manifestation
Heimat der Prima Materia
Die Tyrannei der falschen Herrscher
Die Engstirnigkeit der falschen Lehrer
Die Heuchelei der falschen Priester
Der verworfene Eckstein, der zum Schlussstein wird
Der König der Herrlichkeit
den Du im Spiegel siehst
Tag für Tag

Geburah – die 5. Sphäre

Auf dem Baum Chesed gegenüber gelegen ist die fünfte Sphäre Geburah, die Stärke, auch Härte, Furcht, Gerechtigkeit oder Willen genannt wird. Wie Chokmah und Binah bilden auch Chesed und Geburah eine Dualität, die einander bedingen.
In Geburah ist die Macht und der Missbrauch von Macht angesiedelt, das Durchsetzungsvermögen und die Beharrlichkeit, aber auch die Rücksichtslosigkeit und die Sturheit. Die Farbe von Geburah ist Rot.

      Die rote Intelligenz des Krieges
der Zwillinge Grausamkeit und Tod
Das Schlachtfeld von Mars, Thor, Horus und Vishnu
Die Kette, die Dich an Deinen Peiniger fesselt
Die Geißel der alltäglichen Qual
Der Blick des Basilisken in der Vision der Macht
Aber auch das Messer des klaren Verstandes
Das Skalpell der Selbstheilung
Das Schwert, das den gordischen Knoten löst
Die Stärke des morgigen Tages
Die Klarheit, die Dich überleben lässt
Dein Wille geschehe

Tifereth – die 6. Sphäre

Genau im Zentrum des Lebensbaums liegt die Sphäre Tifereth, die Schönheit. Mit ihr sind die drei freimaurerischen Säulen im Diagramm des Ots Chaim komplett.

Wenn man die Weisheit Chokmah mit der Schönheit Tifereth und der Stärke Geburah mit Linien verbindet, so ergibt sich ein rechter Winkel mit einem längeren und einem kürzeren Schenkel.
Diese Sefirah steht für das Ich-Zentrum, für das reine Selbst-Bewusstsein. Ein anderer Name für Tifereth ist Harmonie, und diese Sphäre wird kabbalistisch im Mikrokosmos dem Herzen, im Makrokosmos der Sonne zugeordnet.
Tifereth entspricht sowohl Adam, wie auch dem geopferten Gott – von Osiris bis Jesus. Die Sefirah enthält die Fähigkeit der Selbstopferung für ein höheres Ziel und seine Ambivalenz ist das Laster Stolz. Die Farbe von Tifereth ist Gelb bzw. Gold.

      Im Ritual der Streiter
Dir Deiner selbst bewusst
Im Zentrum des geopferten Gottes
lodert das solare Feuer
Deiner goldenen Schönheit
verbrennt Dich zu Asche
damit Du Phönix gleich
in Dein neues Äon steigst
Bist ein Kind von Apollo, Krishna und Ra
Bist Adam, das erste Blut stetig vergossen
bis im Schatten Deines Lächelns
Friede sei

Netsach – die 7. Sphäre

Auf der nächsten Ebene finden wir wieder eine Dualität, deren rechte Sphäre Netsach, der Sieg heißt. Bei dieser Sefirah zeigt sich besonders stark, dass die hebräischen Namen, wenn man sie eins zu eins in unsere Sprache und unser heutiges Sprachverständnis übernimmt, auf eine falsche Fährte locken können. Netsach ist der Sieg des Inneren über das Äußere.
Hier ist die Sphäre der Musen und der Künste, der Liebe und der Erotik. Entsprechend unserer bisherigen Erfahrungen mit der Ambivalenz sind hier als Negativa die mangelnde Ausdauer und die Genusssucht, ebenso wie der Neid und der Hass zuhause. Die Farbe von Netsach ist grün.

      Die tanzende Göttin im Licht des Sieges
Das Gefühl der Liebe
die Erfahrung des Hasses
die Barmherzigkeit des Verzeihens
Die Vielen im Einen
im Rhythmus der Ekstase
Das Verschmelzen mit Aphrodite, Venus und Dir
Der empfangende Kelch immerwährenden Wachstums
Das ewige Grün hinter den Schleiern des Bewusstseins
Das Haus der Poesie
die Quelle der Musik
der Strom des Lebens

Hod – die 8. Sphäre

Auf der linken Seite der Paarung auf dieser Ebene finden wir die Sphäre Hod, die Herrlichkeit. Auch hier ein Name, der in unserem Sprachverständnis eher von den Eigenschaften der Sefirah wegführt, als dass er sie uns näher bringt. Gemeinhin wird Hod dem Verstand zugeordnet. Ist Netsach in seiner Anlage hauptsächlich weiblich und eine Entsprechung von Binah auf einer tieferen, d.h. dem Menschen näheren Ebene, so ist Hod hauptsächlich männlich und die Entsprechung zu Chokmah.
Hod ist das Zentrum der Sprache, der Kommunikation, der Ratio und des Intellekts und damit die Sphäre unserer Zeit, die durch die Überbetonung dieser Sefirah ihre Probleme mit der ganzheitlichen Harmonie bezieht. Die Tugend von Hod ist die Wahrhaftigkeit, die Laster sind die Falschheit und die Unehrlichkeit. Die Farbe von Hod ist Orange.

      Die Tür zum Verstand
manchmal zur Wahrheit
Der Platz der Gedanken, Sprache und Schrift
Die Falle der Falschheit
Unehrlichkeit und Rationalität
Das Babel des Intellekts
Der Treffpunkt von Thot, Hermes und Merkur
Die Sphäre des Sehens
jenseits von Meskalin und LSD
Das Zentrum der mentalen Magie
Das orange Licht spirituellen Verstehens
Der Ursprung des Erkennens der Welt

Jesod – die 9. Sphäre

Von Hod führt der Weg zur neunten Sphäre Jesod, das Fundament. Das Wort Fundament ist hier als „Basis“ zu verstehen. Hier liegen das Unbewusste, die Urtriebe, die bipolare sexuelle Energie, die Voraussetzungen für die körperliche Existenz. Diese Sefirah wird dem Mond zugeordnet, ihre Tugend ist die Unabhängigkeit, ihr Laster die Untätigkeit. Die Farbe von Jesod ist Violett.

      Die silberne Mondin des zyklischen Lebens
Die nymphomane Jungfrau und jungfräuliche Hure
in den Armen des Theseus
der den Minotaurus bezwang
Die Strega, die Hexe, das Weib
betörend mit Jasminduft im Schatten der Weide
Die Offenbarerin des Unbewussten
Die Befreierin der Emotionen
lädt Dich in ihr Boot
aus Materie und Geist
Alles ist Maya, alles ist Illusion, alles ist Wahrheit
und sie ist das Fundament

Malkuth – die 10. Sphäre

Die zehnte Sphäre ist Malkuth, das Reich, die Welt der physischen Manifestationen, die Welt, in der wir leben. Alles Bisherige waren geistige und spirituelle Anlagen und Möglichkeiten, Malkuth dagegen ist alles, was materiell der Fall ist. Die Möglichkeiten im Positiven wie im Negativen von Malkuth kennen wir. Malkuth ist das Tor zu den höheren Sphären, unser Zugang zum höheren Selbst, zu unseren Idealen und Visionen. Die Farben von Malkuth sind Zitronengelb, Oliv, Rostbraun und Schwarz; oft wird die Sphäre auch vereinfacht Dunkelgrün als Symbolfarbe für die Erde dargestellt.

      Der Tempel namens Welt
gebaut aus Feuer und Wasser, Erde und Luft
in dem alles und alle sind
Das Blut, das in Wallung kommt
und in den Adern gefriert
Das Gefängnis des Fleisches
und die Freiheit des Leibes
Die Schlange der Sinne und die Flügel des Geistes
Der Vater der Realität und das Kind der Fantasie
Das allfarbige Tor zu allen Möglichkeiten
Die Inschrift über dem Portal
Erkenne Dich selbst

Das waren nun meine poetischen Annäherungen an die einzelnen Sphären. Zum Abschluss möchte ich noch den Fluss der Emanationen im Baum des Lebens von den drei Schleiern durch alle Sefiroth bis zu Malkuth in einem Text darstellen.

Ots Chaim – der Baum des Lebens

(1) „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", Gershom Scholem, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1973
(2) „Ursprünge und Anfänge der Kabbala", Gershom Scholem, De Gruyter & Co, Berlin 1962
(3) siehe 1
(4) „Der Sohar", Hrsg. Ernst Müller, Eugen Diederichs Verlag, München 1991
(5) siehe 1
(6) „Die poetische Kabbala", Lyrik, Gerd Scherm, Edition Nunatak, Fürth 1992
(7) „Die persönliche Qabalah", Will Parfitt, M&T Verlag, St. Gallen 1990
(8) siehe 7
(9) siehe 6
(10) „Die mystische Kabbala", Dion Fortune, Verlag Hermann Bauer, Freiburg 1987
(11) siehe 7

 

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